hverfg 3-2023
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Leitsätze
- Bei der Ausgestaltung, Auslegung und Anwendung ihrer Geschäftsordnung nach Art. 18 Abs. 1 Satz 2 HV steht der Bürgerschaft ein hohes Maß an Autonomie zu. Der Ausgleich zwischen den dabei betroffenen Rechten und Rechtsgütern obliegt in erster Linie der Bürgerschaft selbst. Dem Parlament kommt dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zu, solange das Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten an den Aufgaben des Parlaments gewahrt bleibt. Entsprechendes gilt für die Präsidentin der Bürgerschaft, wenn sie die Geschäftsordnung anwendet.
- In Anerkennung des der parlamentarischen Sitzungsleitung zustehenden Ermessens- und Beurteilungsspielraums beschränkt sich die verfassungsgerichtliche Prüfung darauf festzustellen, ob der Ordnungsruf geeignet ist, in unzulässiger Weise auf den parlamentarischen Meinungsstreit Einfluss zu nehmen. Dies ist der Fall, wenn bei der Erteilung des Ordnungsrufs grundlegende rechtsstaatliche Verfahrenserfordernisse nicht eingehalten oder wesentliche Umstände verkannt worden sind, wenn der Ordnungsruf willkürlich ergangen ist oder wenn die Entscheidung der Sitzungsleitung mit Blick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip unangemessen erscheint.
- Dieser Maßstab gilt im Grundsatz auch dann, wenn der Ordnungsruf an den Inhalt der Rede eines Abgeordneten anknüpft und daher in gesteigerter Weise geeignet ist, wesentliche Mitwirkungsrechte des betroffenen Abgeordneten in unzulässiger Weise einzuschränken. Auch in diesem Fall prüft das Verfassungsgericht die Bewertung der amtierenden Sitzungsleitung in Anerkennung ihres Entscheidungsspielraums und des regelhaft engen, nachträglich nur begrenzt rekonstruierbaren Situationsbezugs der Maßnahme darauf, ob sie im Hinblick auf die im konkreten Fall betroffenen Rechtsgüter und Interessen vertretbar erscheint. Das setzt voraus, dass der Äußerung ein Sinn zugrunde gelegt wurde, der im konkreten Zusammenhang der parlamentarischen Debatte aus der maßgeblichen Sicht eines objektiven Betrachters nachvollziehbar ist. Der Einsatz des Ordnungsrechts darf nicht als Versuch einer inhaltlichen Ausgrenzung bestimmter Sachverhalte oder Bewertungen erscheinen, die aus der Sicht des Redners oder der Rednerin der Auseinandersetzung in der Sache dienen sollen.