Hamburgisches Verfassungsgericht

Entscheidung zum Volksbegehren "Rettet den Volksentscheid"

Das Volksbegehren "Rettet den Volksentscheid zur Stärkung der Demokratie in Hamburg" darf nicht durchgeführt werden. Das hat das Hamburgische Verfassungsgericht mit Urteil vom 13. Oktober 2016 entschieden.

Das Volksbegehren „'Rettet den Volksentscheid' zur Stärkung der Demokratie in Hamburg“ darf nicht durchgeführt werden. Das hat das Hamburgische Verfassungsgericht mit Urteil vom 13. Oktober 2016 entschieden. Danach verstößt der Gesetzentwurf zum Volksbegehren gegen das sogenannte Kopplungsverbot. Mit dem Entwurf werden unterschiedliche Regelungsgegenstände miteinander verknüpft und zur Abstimmung gestellt, obwohl sie nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang miteinander stehen. Die Änderungsvorschläge verstoßen auch einzeln betrachtet gegen höherrangiges Recht. Sie sind mit dem Demokratieprinzip bzw. dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar und laufen damit Grundentscheidungen der Hamburgischen Verfassung zuwider. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist einstimmig ergangen.

Auf Antrag des Senats hatte das Verfassungsgericht über die Durchführung des Volksbegehrens zu entscheiden. Dem war eine im Mai 2015 gestartete Volksinitiative vorausgegangen, die einen Gesetzentwurf mit Änderungen der Hamburgischen Verfassung zur Stärkung der Volksgesetzgebung vorgelegt hatte. Nachdem diese Vorlage von der Bürgerschaft nicht als Gesetz übernommen worden war, hatten die Initiatoren im Januar 2016 die Durchführung eines Volksbegehrens über das Gesetzesvorhaben beantragt und im März 2016 einen gegenüber der Ursprungsfassung geänderten Gesetzentwurfs eingereicht.

Nach dem Urteil des Hamburgischen Verfassungsgerichts haben die Initiatoren mit dem zuletzt eingereichten Gesetzentwurf zum Volksbegehren die Grenzen einer zulässigen Überarbeitung gegenüber dem ursprünglichen Entwurf zur Volksinitiative nicht überschritten. Die Anpassungen lassen den Grundcharakter und die angestrebten Ziele der Volksinitiative unverändert. Der Durchführung des Volksbegehrens steht aber entgegen, dass die verschiedenen Regelungsgegenstände des Gesetzentwurfs nicht unmittelbar sachlich und inhaltlich miteinander zusammenhängen und damit allenfalls getrennt voneinander zur Abstimmung zu stellen wären (Kopplungsverbot). Die Änderungsvorschläge gehen über eine Umgestaltung der Volksgesetzgebung hinaus und beziehen sich auch auf die Befugnisse der Bürgerschaft und des Senats sowie auf den Gesetzgebungsprozess bei Verfassungsänderungen und Änderungen des Wahlrechts.

Auch nach einer Aufteilung des Gesetzentwurfs in Einzelbegehren wäre das Volksbegehren nicht durchzuführen. Die einzelnen Änderungsvorschläge sind mit höherrangigem Recht unvereinbar.

Die vorgeschlagene Absenkung des Zustimmungsquorums bei Volksentscheiden über einfache Gesetze auf ein Viertel der in der Bürgerschaft „repräsentierten“ Stimmen (aktuell ca. 13 % aller Wahlberechtigten) ist mit dem Mehrheitsgrundsatz unvereinbar. Die Ausweitung der Volksgesetzgebung auf das Abgabenrecht verstößt zudem gegen das Prinzip der repräsentativen Demokratie, da sie die Gesamtverantwortung des Parlaments für den Haushalt beseitigen würde.

Das vorgeschlagene Parlamentsreferendum, dessen Durchführung nur noch von einer einfachen Mehrheit der Bürgerschaftsabgeordneten abhinge und bei dem Gegenvorlagen lediglich von 20 % der Bürgerschaftsabgeordneten oder 2,5 % der Wahlberechtigten unterstützt werden müssten, ist ebenfalls mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Soweit sich ein Referendum – außer auf Gesetzentwürfe – auch auf sonstige Vorlagen ohne grundsätzliche und gesamtstädtische Bedeutung erstrecken soll, verstößt der Vorschlag auch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung.

Die Einführung des obligatorischen Referendums über verfassungsändernde Gesetze der Bürgerschaft ist mit der Grundentscheidung der Verfassung zugunsten der repräsentativen Demokratie unvereinbar, da sie die parlamentarische verfassungsändernde Gesetzgebung gegenüber einer Verfassungsänderung durch Volksgesetzgebung benachteiligen würde.

Ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip liegt auch in dem vorgeschlagenen fakultativen Wahlrechtsreferendum. Danach müsste eine von der Bürgerschaft beschlossene Änderung des Wahlrechts bei einem entsprechenden Verlangen von 2,5 % der Wahlberechtigten durch ein Referendum bestätigt werden. Dieses soll nicht von einem Zustimmungsquorum abhängig sein und würde damit vergleichsweise kleinen Gruppen die Möglichkeit geben, einen Beschluss der Bürgerschaft zu Fall zu bringen, solange nur die Mehrheit nicht an der Abstimmung teilnimmt.

Im Einzelnen liegen der Entscheidung folgende Grundsätze zu Grunde:

1. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung ist die Durchführung eines Volksbegehrens in der Gestalt, die es zuletzt durch den Antrag der Initiatoren erhalten hat; das ist der Gesetzentwurf in der Fassung vom 24. März 2016. Die ursprüngliche Fassung lebt auch im Fall der Unvereinbarkeit der letzten Fassung mit geltendem Recht nicht wieder auf.

2. Die in Art. 50 Abs. 2 Satz 5 HV und in § 6 Abs. 1 Satz 4 HVAbstG vorgesehene Möglichkeit zur Überarbeitung eines Volksbegehrens erstreckt sich auch auf inhaltliche Änderungen, solange der Grundcharakter und die angestrebten Ziele oder Teilziele der Volksinitiative nicht verändert werden. Ist dies der Fall, sind insbesondere Änderungen der Regelungstechnik, die Aufnahme flankierender Regelungen, die der Reform zu größerer Effizienz verhelfen sollen, oder eine Zurücknahme einzelner Teilziele im Vergleich zur ursprünglichen Fassung zulässig.

3. Aus dem Demokratieprinzip folgt für die Volksgesetzgebung ein Koppelungsverbot für Gegenstände, die materiell nicht in einem sachlich-inhaltlichen Zusammenhang zueinander stehen. Da die Abstimmungsberechtigten lediglich mit „Ja“ oder „Nein“ stimmen können, sind sachlich und inhaltlich nicht unmittelbar zusammenhängende Materien getrennt zur Abstimmung zu stellen. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht bereits über eine gleichgerichtete Zielsetzung verschiedener Reformvorhaben herstellen, wenn sich diese ansonsten mit unterschiedlichen Regelungsinhalten an unterschiedliche Normadressaten richten. 

4. Auch eine Verfassung ohne ausdrückliche Ewigkeitsgarantie bindet den verfassungsändernden Gesetzgeber an ihre identitätsstiftenden und -sichernden Grundentscheidungen. Zum Bestand der identitätsstiftenden und -sichernden Grundentscheidungen der Hamburgischen Verfassung gehört jedenfalls der Regelungsgehalt von Art. 3 HV, der die Freie und Hansestadt Hamburg zu einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat erklärt, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und nach Maßgabe der Verfassung und der Gesetze ausgeübt wird.

5. Zwar sind Volkswillensbildung und parlamentarische Willensbildung hinsichtlich der hierbei gefundenen Ergebnisse gleichrangig, jedoch ist damit dem Volksgesetzgeber im Vergleich zum parlamentarischen Gesetzgeber nicht auch quantitativ und qualitativ der gleiche oder gar einen höherer Stellenwert einzuräumen. Eine substantielle Verlagerung der legislativen Aufgaben vom parlamentarischen Gesetzgeber auf die Volksgesetzgebung ist mit dem Demokratieprinzip, so wie es in der Hamburgischen Verfassung verankert ist, nicht vereinbar.

6. Eine Verfassungsänderung, die auch das Abgabenrecht zum Gegenstand der Volksgesetzgebung macht, ist mit dem Demokratieprinzip – hier in seiner Ausprägung als Grundsatz der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Parlaments – nicht vereinbar.

7. Hinreichende demokratische Legitimation erlangt ein Gegenstand der Volksgesetzgebung nur kraft seiner ausdrücklichen Billigung durch die Mehrheit. Eine Verfassungsänderung, die das Zustimmungsquorum in Abhängigkeit von der Zahl der in der Bürgerschaft "repräsentierten" Wählerstimmen ermitteln will und für einfaches Recht und andere Vorlagen ein Quorum von einem Viertel der repräsentierten Stimmen (aktuell ca. 13% aller Wahlberechtigten) ausreichen lässt, verstößt gegen das Mehrheitsprinzip als Ausprägung des Demokratieprinzips.

8. Eine Verfassungsänderung, die an verfassungsändernde Gesetze unterschiedliche Maßstäbe anlegt, je nachdem ob diese auf dem Weg der parlamentarischen Gesetzgebung oder der Volksgesetzgebung zustande kommen sollen, verstößt gegen die mit dem Demokratieprinzip verbundene Grundentscheidung der Verfassung zugunsten der repräsentativen Demokratie.

9. Eine Verpflichtung des Normgebers auf ein für jeden verständliches Sprachniveau ist ihrerseits mit dem Gebot der Normenklarheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips unvereinbar.