Ausgangspunkt des Verfahrens ist die im August 2019 gestartete Volksinitiative mit dem Ziel, eine umfassende Bindungswirkung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auf Bezirks- und Senatsebene zu erreichen. In der Vorlage der Initiatoren heißt es:
„Senat und Bürgerschaft unternehmen unverzüglich alle notwendigen Schritte, damit in Bezirksangelegenheiten rechtlich für Bezirk und Senat Bürgerentscheide bindend sind. Bürgerbegehren dürfen ab dem Tag ihrer Anmeldung nicht mehr be- bzw. verhindert werden. Erfolgreiche Bürgerentscheide oder der Beschluss des Bezirks über die Annahme von Bürgerbegehren dürfen nur im Wege eines neuen Bürgerentscheids abgeändert werden.“
Nachdem die Hamburgische Bürgerschaft die Vorlage der Volksinitiative nach Einreichung der erforderlichen Unterschriften nicht verabschiedet hatte, beantragten die Initiatoren im Juni 2020 die Durchführung eines Volksbegehrens nach dem Hamburgischen Volksabstimmungsgesetz. Daraufhin hat der Senat im Juli 2020 das Hamburgische Verfassungsgericht angerufen und die Feststellung beantragt, dass das Volksbegehren nicht durchzuführen sei.
Nach Auffassung des Senats überschreitet die Vorlage die verfassungsrechtlichen Grenzen eines Volksbegehrens, denn es würden Verfassungs- und Gesetzesänderungen angestrebt, ohne dass hierfür ein konkreter Gesetzesentwurf vorgelegt werde. Die von der Volksinitiative beabsichtigten Ziele erforderten Änderungen der Hamburgischen Verfassung und Rechtsänderungen in Bezug auf die Bezirke, die mit der Stadtstaatlichkeit als wesentlichem Strukturmerkmal der Hamburgischen Verfassung unvereinbar seien. Es liege weiter ein Verstoß gegen das aus dem Demokratieprinzip folgende Kopplungsverbot vor. Mit dem Volksbegehren würden insgesamt drei unabhängige Regelungsbereiche verfolgt werden: erstens eine Bindungswirkung von Bürgerbegehren für Senat und Bezirksamt, zweitens eine Sperrwirkung bei Anmeldung eines Bürgerbegehrens und drittens die Begrenzung der Änderungskompetenz von Bürgerentscheiden auf nachfolgende Bürgerentscheide. Das sei auch mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit von unmittelbarer und mittelbarer Volksherrschaft in der Verfassung und deren Grundentscheidung zugunsten der repräsentativen Demokratie sowie mit dem Grundsatz der demokratischen Verwaltungslegitimation unvereinbar, denn mit der Sperrwirkung angemeldeter Bürgerbegehren und der Bindungswirkung getroffener Bürgerentscheide würden die betroffenen Entscheidungsbereiche den Bezirksämtern, dem Senat und sogar der Bürgerschaft dauerhaft entzogen. Schließlich verstoße die Vorlage gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Abstimmungsklarheit und -wahrheit im Volksabstimmungsrecht. Das Ausmaß der erforderlichen Rechtsänderungen, namentlich die Abkehr vom Prinzip der Stadtstaatlichkeit, werde weder in der Vorlage noch in der Begründung klar.
Die Initiatoren vertreten die Auffassung, es handele sich um eine zulässige Befassungsinitiative, mit der eine Aufforderung an Senat und Bürgerschaft zum Gegenstand der politischen Willensbildung gemacht werde. Der Vorlage eines eigenen Gesetzentwurfes bedürfe es nicht; vielmehr könne der Senat im Wege eines Volksentscheids zur Erstellung eines entsprechenden Gesetzesentwurfs und zur Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens in die Bürgerschaft verpflichtet werden, die Bürgerschaft könne zur Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens verpflichtet werden. Das Verfassungsprinzip der Stadtstaatlichkeit stehe den Zielen der Volksinitiative nicht entgegen, denn die Stadtstaatlichkeit verbiete es nicht, Aufgaben in genuin bezirklichen Angelegenheiten auf die Bezirksebene zu konzentrieren. Das Demokratieprinzip sei nicht verletzt, sondern erfordere geradezu die angestrebten Rechtsänderungen: Ebenso wie die Bezirksversammlungen hätten Bürgerentscheide auf Bezirksebene eine demokratische Eigenlegitimation. Genuine Bezirksangelegenheiten müssten deshalb vom Weisungs- und Evokationsrecht des Senats ausgenommen bzw. auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle begrenzt sein. Ein Verstoß gegen das Kopplungsverbot liege nicht vor, denn die gewünschten Änderungen zur Durchsetzung direktdemokratischer Entscheidungsbefugnisse beträfen eine einheitliche Regelungsmaterie. Schließlich erfordere das Gebot der Abstimmungsklarheit und -wahrheit im Volksabstimmungsrecht keine ausdrückliche Aufklärung der Abstimmenden darüber, dass die Volksinitiative auf eine staatsorganisationsrechtliche Änderung abziele, die eine Trennung der gemeindlichen und staatlichen Tätigkeiten zur Folge habe. Die Abstimmenden müssten die Folgen und Reichweite ihrer Zustimmung über eine bestimmte Fragestellung selbst rechtlich prüfen und abwägen.
Mit einer Urteilsverkündung ist im Februar 2022 zu rechnen.
________________________________________________________________________________________________________________________
Das Hamburgische Verfassungsgericht ist Verfassungsorgan neben Bürgerschaft und Senat. Seine verfassungsrechtliche Grundlage findet es in Artikel 65 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (HV). Als höchstes Gericht der Freien und Hansestadt Hamburg ist es zuständig insbesondere für die in Art. 65 HV benannten Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen, für Entscheidungen über die Vereinbarkeit von Landesgesetzen und ‑rechtsverordnungen mit der Hamburgischen Verfassung, für Beschwerden gegen die Gültigkeit von Wahlen zu Bürgerschaft und Bezirksversammlungen sowie für Streitigkeiten über die Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheiden.
Das Hamburgische Verfassungsgericht besteht aus der Präsidentin und acht Verfassungsrichterinnen bzw. ‑richtern. Die Bürgerschaft wählt die Mitglieder des Verfassungsgerichts auf sechs Jahre. Präsidentin ist Birgit Voßkühler. Nähere Informationen finden Sie auf der Homepage des Hamburgischen Verfassungsgerichts: www hamburgisches-verfassungsgericht.de.
Rückfragen:
Pressestelle des Hamburgischen Verfassungsgerichts – Dr. Kai Wantzen
Tel.: 040/42843-2017
E-Mail: Pressestelle@olg.justiz.hamburg.de