Hamburgisches Verfassungsgericht

HVerfG 3/2017

Ausschluss eines Abgeordneten aus der Bürgerschaftssitzung

1. Von dem Begriff der Ordnung des Hauses nach § 48 Abs. 1 Geschäftsordnung der Bürgerschaft (GOBü) sind neben dem äußeren Ablauf der Sitzung auch das Ansehen und die Würde der Bürgerschaft geschützt und damit neben den unmittelbaren Rechten und Interessen der Bürgerschaft selbst auch solche der Allgemeinheit und Dritter. Die parlamentarische Würde, deren Wahrung gemäß § 3 Abs. 1 GOBü Aufgabe der Präsidentin oder des Präsidenten der Bürgerschaft ist, ist ein besonders hohes Schutzgut, weil das Ansehen der Bürgerschaft eine wesentliche Bedingung für die Akzeptanz der Demokratie im allgemeinen und der Volksvertretung als ihrer zentralen Institution im Besonderen darstellt und damit Voraussetzung einer funktionierenden demokratischen Ordnung ist.

2. Auch die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament stellt ein hohes verfassungsrechtliches Schutzgut dar. Sie beinhaltet eine in der Demokratie unverzichtbare Kompetenz zur Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben, die den Status als Abgeordneter wesentlich mitbestimmt. Die parlamentarische Ordnung ist deshalb im Fall bloßer – auch harter und schonungsloser – Kritik am politischen Gegner ebenso wenig verletzt wie bei Vereinfachungen, Übertreibungen bzw. Verharmlosungen tatsächlicher Vorfälle und deren Instrumentalisierung zur Begründung eigener Ansichten.

3. Bei der Abwägung dieser konfligierenden Schutzgüter sind die aus dem allgemeinen Äußerungsrecht bekannten Kategorien Tatsachenbehauptung, Werturteil und Schmähkritik geeignete Hilfsmittel um zu bestimmen, ob ein Abgeordneter im Einzelfall mit einem Redebeitrag einen Ordnungsverstoß begangen hat.

4. Die Verbreitung unwahrer Tatsachen oder das Leugnen historischer Ereignisse stellt grundsätzlich einen Verstoß gegen die Ordnung des Hauses dar.

a) Dabei kommt es für die Beurteilung, ob eine Tatsache wahr oder unwahr ist, jedenfalls dann auf eine vom Gericht vorzunehmende ex-post-Betrachtung an, wenn Zweck der Ordnungsmaßnahme die Sanktionierung einzelner Aussagen wie z.B. durch Ausschluss des Abgeordneten von der weiteren Sitzung des Parlamentes ist und ihr damit ein repressiver Charakter zukommt. Sofern es sich um Tatsachen in Beziehung auf andere handelt, die geeignet sind, denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, trägt nach der gesetzgeberischen Wertung des § 186 StGB die Darlegungs- und Beweislast für die Wahrheit der behaupteten Tatsache derjenige, der sie verbreitet.

b) Bei rein präventiv wirkenden Maßnahmen zur Sicherstellung des äußeren Ablaufs der Sitzung wie insbesondere einem Ordnungsruf ist hingegen wegen des Erfordernisses einer sehr zeitnahen Reaktion des Parlamentspräsidenten, der quasi keinen Raum für eine Überprüfung von Fakten lässt, auf eine ex-ante Betrachtung abzustellen.

5. Im Gegensatz zu falschen Tatsachenbehauptungen sind mit Blick auf die Funktion des Parlaments als Forum für Rede und Gegenrede Werturteile, d.h. die Bewertung tatsächlicher Gegebenheiten durch Ausdruck eines Dafür- oder Dagegenhaltens, vom Rederecht eines Abgeordneten grundsätzlich gedeckt. Ausnahmen vom Recht, Werturteile abzugeben, greifen dann ein, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern – jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik – die Diffamierung einer Person oder ganzer Personengruppen im Vordergrund steht.

6. Die Auslegung der in den ordnungsrechtlichen Vorschriften verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe (Verletzung der Ordnung i.S.d. § 46 Abs. 2 GOBü, gröbliche Verletzung der Ordnung i.S.d. § 48 Abs. 1 GOBü), ihre Anwendung auf den Einzelfall und die Gewichtung eines erkannten Verstoßes bleibt vorrangig Sache der Bürgerschaft und ihrer Präsidentin bzw. ihres Präsidenten im Rahmen einer Einzelfallentscheidung. Hierbei besteht für die Bürgerschaftspräsidentin insbesondere wegen ihrer Stellung als Verfassungsorgan und der Situationsgebundenheit von Ordnungsmaßnahmen grundsätzlich ein vom Gericht zu beachtender Beurteilungsspielraum.

7. Die parlamentarischen Ordnungsmaßnahmen unterliegen indes einer strengeren gerichtlichen Überprüfung, wenn sie zu einem intensiven Eingriff in die Abgeordnetenrechte führen und/oder wenn sie an den Inhalt einer Rede eines Abgeordneten anknüpfen.