HVerfG 8/2015
1. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Wahl ist im Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren auf die von dem Beschwerdeführer erhobenen Rügen beschränkt (sog. Anfechtungsprinzip). Es können nur solche Rügen berücksichtigt werden, die bereits Gegenstand des parlamentarischen Wahlprüfungsverfahrens gewesen sind.
2. Für die Zulässigkeit von Rügen im Wahlprüfungsverfahren gelten erhöhte Substantiierungsanforderungen. Eine ordnungsgemäße Begründung verlangt eine hinreichend substantiierte und aus sich heraus verständliche Darlegung eines Sachverhalts, aus dem erkennbar ist, worin ein Wahlfehler liegen soll, der Einfluss auf das Wahlergebnis haben kann.
3. Die Bürgerschaft ist im Wahlprüfungsverfahren nicht verpflichtet, Verwaltungsvorgänge beizuziehen, um dem Einspruchsführer die Geltendmachung oder Substantiierung möglicher Wahlfehler überhaupt erst zu ermöglichen.
4. Mängel im Wahlprüfungsverfahren der Bürgerschaft können im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde nur dann beachtlich sein, wenn sie wesentlich sind und der Entscheidung der Bürgerschaft über den Wahleinspruch des Beschwerdeführers die Grundlage entziehen.
5. Im Rahmen des Wahlprüfungsbeschwerdeverfahrens überprüft das Hamburgische Verfassungsgericht die bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl zur Anwendung gelangten Vorschriften des Wahlrechts nur insoweit auf ihre Verfassungsmäßigkeit, als sie für die Zusammensetzung der Bürgerschaft von Bedeutung sind. Eine abstrakte Normenkontrolle findet nicht statt, soweit Wahlvorschriften – bislang – nicht zur Anwendung gelangt sind bzw. keine Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments haben.
6. Soweit Art. 39 HV bzw. § 39 BüWG regeln, dass im Fall der Berufung eines Bürgerschaftsmitglieds in den Senat das Mandat des Senatsmitglieds von diesem nicht ausgeübt und stattdessen von der nachberufenen Person wahrgenommen wird, sind die Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar. Insoweit wird weder der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 HV, noch der Grundsatz der Freiheit des Mandats aus Art. 7 Abs. 1 HV berührt.
7. Die „Scheinkandidatur“ eines Wahlbewerbers, d.h. eine Kandidatur unter dem inneren Vorbehalt, eine etwaige Wahl nicht annehmen zu wollen, begründet keinen beachtlichen Wahlfehler.
8. Es begründet keinen beachtlichen Wahlfehler, wenn die Auszählung der Stimmen nicht vollständig am Tag der Bürgerschaftswahl vorgenommen, sondern auch am Folgetag fortgesetzt wird. Auch ist es mit den Vorschriften des Wahlrechts vereinbar, die Auszählung am Folgetag der Wahl teilweise in Auszählzentren zu verlagern und nicht im Wahlraum durchzuführen. In solchen Fällen gelten aber besondere Anforderungen, um dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl zu genügen (hierzu 9.).
9. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl erfordert, dass die Möglichkeiten der Wahlberechtigten, die Ermittlung des Wahlergebnisses zu verfolgen, nicht unzumutbar oder willkürlich erschwert werden. Hieraus folgt, dass es jedem Wahlberechtigten möglich sein muss, ungehindert und ohne Weiteres in Erfahrung zu bringen, wo und wann welche Auszählung stattfindet. Dies gilt auch und in besonderem Maße, soweit eine Auszählung nicht im unmittelbaren Anschluss an die Wahlhandlung im Wahlraum vorgenommen wird. Für die Auszählung von Stimmen in Auszählzentren muss gewährleistet sein, dass die Wahlberechtigten Kenntnis darüber erhalten können, an welchem Ort und zu welcher Zeit welche Wahlbezirke ausgezählt werden. Für jeden Wahlbezirk, für den eine Auszählung in einem Auszählzentrum erfolgt, muss darüber informiert werden, dass und zu welcher Zeit eine Auszählung außerhalb des Wahlraums stattfindet und wo sich der für den jeweiligen Wahlbezirk maßgebliche Auszählungsort befindet. Diese Information muss sowohl für solche Wahlberechtigte zugänglich sein, die ein Wahllokal aufsuchen, als auch für solche Wahlberechtigten, die nicht in einem Wahllokal wählen (z.B. Briefwähler) oder die von ihrem aktiven Wahlrecht keinen Gebrauch machen.
10. Ein Wahlfehler, der die Ungültigkeit der Wahl zur Folge haben kann, liegt immer dann vor, wenn durch die geltend gemachte Rechtsverletzung die gesetzmäßige Zusammensetzung der zu wählenden Körperschaft berührt sein kann.