Das Hamburgische Verfassungsgericht (Az. HVerfG 3/10) hat heute unter dem Vorsitz seines Präsidenten Gerd Harder das Urteil verkündet, mit dem der Antrag dreier Bürger der Freien und Hansestadt Hamburg, den Volksentscheid vom 18. Juli 2010 über die Hamburger Schulreform für rechtswidrig und ungültig zu erklären, abgelehnt wird.
Die Antragsteller hatten den Volksentscheid mit der Begründung angefochten, sowohl hinsichtlich der (erfolgreichen) Vorlage der Volksinitiative „Wir wollen lernen!" als auch der (unterlegenen) Gegenvorlage der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg seien Zustandekommen, Gegenstand der Abstimmung, Durchführung des Abstimmungsverfahrens und Ermittlung des Abstimmungsergebnisses rechts-widrig gewesen. Über den Anfechtungsantrag hat das Gericht am 20. Juni 2011 mündlich verhandelt.
Im Mittelpunkt des heutigen Urteils stehen die Fragen,
- ob auf Antrag eines Stimmberechtigten das Hamburgische Verfassungsgericht nur das Ergebnis eines Volksentscheides im engeren Sinne oder auch das Verfahren des Volksentscheides, die Zulässigkeit seiner Thematik und die Vorstufen (Volksinitiative, Volksbegehren) prüft,
- ob die Vertreter einer Volksinitiative wie staatliche Stellen einem Sachlichkeitsgebot unterliegen,
- ob Ja-Stimmen, die ein Stimmberechtigter parallel zu zwei inhaltlich widersprüchlichen Abstimmungsvorlagen abgibt, gültig sind.
Die getroffene Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts hat über den Volksentscheid zur Schulreform hinaus grundlegende Bedeutung für künftige Verfahren der 1996 in die Hamburgische Verfassung (HV) aufgenommenen Volkswillensbildung durch Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid.
I. Nach dem Urteil des Hamburgischen Verfassungsgerichts ist der Antrag zwar im Grundsatz zulässig, doch ist die Mehrzahl der erhobenen Rügen von der gerichtlichen Prüfung ausgeschlossen. Soweit die Rügen der Prüfung zugänglich sind, haben sie sich als unbegründet erwiesen.
1. Gemäß § 27 Abs. 2 Volksabstimmungsgesetz (VAbstG) entscheidet auf Antrag unter anderem eines Stimmberechtigten das Hamburgische Verfassungsgericht über das „Ergebnis eines Volksentscheids".
a) Das Hamburgische Verfassungsgericht erstreckt die Prüfung über den bloßen Auszählungs- und Auswertungsvorgang hinaus auf das Abstimmungsverfahren zum Volksentscheid, aber nicht auf das gesamte Verfahren der Volkswillensbildung.
Für das direktdemokratische Abstimmungsverfahren gelten die Wahlrechtsgrundsätze und somit das durch das Demokratieprinzip bestimmte Erfordernis, eine gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit vorzuhalten, entsprechend. Damit muss auch das Verfahren zum Volksentscheid gerichtlich überprüfbar sein. Dem genügt eine Auslegung des § 27 Abs. 2 VAbstG dahin, dass nicht allein Auszählung und Ergebnismitteilung, sondern zudem das Verfahren zum Volksentscheid der Überprüfung durch das Hamburgische Verfassungsgericht unterfällt, und zwar - weil die Vorschrift insoweit nicht zwischen Stimmberechtigten und anderen Antragsberechtigten wie Senat oder Bürgerschaft differenziert - auch auf Antrag eines einzelnen Stimmberechtigten.
Die erweiternde Auslegung des § 27 Abs. 2 VAbstG ist aber nicht zusätzlich auf den Gegenstand der zum Volksentscheid gestellten Vorlage bzw. Gegenvorlage auszudehnen. Für dessen verfassungsgerichtliche Überprüfung bestimmen Artikel 50 Abs. 5 HV, § 26 Abs. 1 Nr. 1 VAbstG ein dem Volksentscheid vorgelagertes gesondertes Verfahren. Dass in diesem gesonderten Verfahren einzelne Stimmberechtigte nicht antragsberechtigt sind, verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Da den Ländern ein eigener Verfassungsraum zugewiesen ist, sind sie - in den Grenzen des Homogenitätsprinzips nach Artikel 28 Abs. 1 Grundgesetz (GG) - bei der Gestaltung der gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit frei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die dem einzelnen Bürger nach Artikel 19 Abs. 4 GG eingeräumte Rechtsschutzgarantie bei Wahlen und folglich bei Volksabstimmungen nicht anwendbar. So wie anerkanntermaßen dem einzelnen Wahlberechtigten aus seinem Wahlrecht keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen Gegenstände der parlamentarischen Gesetzgebung eingeräumt ist, hat der einzelne Stimmberechtigte aus seinem Stimmrecht keinen Anspruch auf Rechtsschutz gegen Gegenstände der Volksgesetzgebung.
Auf dem Volksentscheid vorgelagerte frühere Phasen der Volkswillensbildung, nämlich Volksinitiative und Volksbegehren, ist der Prüfungsbereich nach § 27 Abs. 2 VAbstG nicht zu erweitern. Bei Volksinitiative und Volksbegehren handelt es sich nicht um einer Wahl vergleichbare Abstimmungen, sondern ihnen kommt eine bloße Initiativ- und Thematisierungsfunktion zu. Deshalb sind die Grundsätze zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Wahlen und Ab
stimmungen nicht übertragbar.
Aus dem so bestimmten Anwendungsbereich des § 27 Abs. 2 VAbstG folgt, dass die meisten der durch die Antragsteller erhobenen Rügen von der verfassungsgerichtlichen Prüfung ausgeschlossen sind, nämlich diejenigen
- zu einem Verstoß von Vorlage und Gegenvorlage gegen ein Verbot zur Koppelung der Fragen von Elternwahlrecht, Dauer der Grundschule, Abschaffung des Büchergeldes pp.,
- zu einem Verstoß von Vorlage und Gegenvorlage gegen das Verbot von Entscheidungen, die sich auf den Haushaltsplan auswirken,
- zum Fehlen einer Umarbeitung der Vorlage in einen Gesetzentwurf,
- zu der Adressierung der in der Vorlage enthaltenen Aufforderung auch an den Senat,
- zur Tenorierung der Gegenvorlage als bloße Meinungsbekundung statt Handlungs- oder Unterlassungsaufforderung an die Bürgerschaft,
- zu Verstößen der Gegenvorlage gegen das Bestimmtheitsgebot,
- zu einer Fehlerhaftigkeit des Verfahrens der Bürgerschaft, aus dem die Gegenvorlage erwachsen ist,
- zu einer unzulässigen Referendumsvorlage auf der Stufe der Volksinitiative,
- zu Verletzungen eines Sachlichkeitsgebotes in den Phasen vor Durchführung des Volksentscheides.
b) Ferner ist für Rügen, mit denen die Antragsteller Sachlichkeitsverstöße in Bezug auf die unterlegene Gegenvorlage geltend machen, eine Prüfung durch das Hamburgische Verfassungsgericht nicht eröffnet. Da auf die Gegenvorlage der Bürgerschaft mehr Nein- als Ja-Stimmen entfallen sind, weisen die Rügen keinen hinreichenden Bezug zu der im Verfahren nach § 27 Abs. 2 VA-bstG allein erheblichen Frage, ob zu Recht die Vorlage der Volksinitiative als angenommen und die Gegenvorlage als abgelehnt ermittelt worden ist, auf. Die Wirksamkeit des Abstimmungserfolges der obsiegenden Vorlage hängt nicht vom rechtlichen Schicksal einer konkurrierenden unterlegenen Vorlage ab.
c) Schon wegen unzureichender Begründung des Antrages ist das Hamburgische Verfassungsgericht nicht den Rügen nachgegangen, im Vorfeld des Volksentscheides sei es zu Vandalismus an Plakaten sowie zu unzulässigen Einflussnahmen gekommen und die eröffnete Möglichkeit, gegen beide Vorlagen parallel mit Nein zu stimmen, sei rechtswidrig.
2. Zu den somit für die Prüfung durch das Hamburgische Verfassungsgericht verbleibenden Rügen - rechtswidrige Bewertung von parallel zu Vorlage und Gegenvorlage abgegebenen Ja-Stimmen sowie unzulässige Beeinflussungen zugunsten der Vorlage der Volksinitiative im Abstimmungsverfahren zum Volksentscheid - ist der Antrag auf Ungültigerklärung des Volksentscheides unbegründet.
a) Die Bewertung paralleler Ja-Stimmen zur Vorlage der Volksinitiative und zur Gegenvorlage der Bürgerschaft als gültig ergibt sich für Hamburg aus §§ 21, 22, 23 VAbstG. Danach handelt es sich trotz Zusammenfassung der Abstimmungsfragen auf einem Stimmzettel um zwei separate Abstimmungen und nicht um eine vom Stimmberechtigten zu treffende Auswahlentscheidung. Ei-ne Ausnahme für den Fall inhaltlicher Widersprüchlichkeit von Vorlage und Gegenvorlage - hier von den Antragstellern darin gesehen, dass die durch die Volksinitiative verfolgte vierjährige Grundschule mit der durch die Gegenvorlage verfolgten sechsjährigen Grundschule unvereinbar sei - normiert das Volksabstimmungsgesetz nicht. Diese mit der gesetzlichen Regelung in Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westphalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt übereinstimmende einfach-rechtliche Gestaltung ist mit höherrangigem Recht, nämlich der Hamburgischen Verfassung und dem Grundgesetz, vereinbar.
Die auf Volksentscheide anzuwendenden Abstimmungsrechtsgrundsätze entsprechen den Wahlrechtsgrundsätzen (Art. 6 Abs. 2 HV, 38 Abs. 1 S. 1 GG) und sind als Konkretisierung des Demokratieprinzips zu verstehen. Zu ihrer Ausgestaltung ist dem Gesetzgeber, wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Wahlrechtsgrundsätzen anerkannt, ein Spielraum eingeräumt, innerhalb dessen er die für die Funktionsfähigkeit des Systems direkter Demokratie erheblichen Belange zum Ausgleich zu bringen hat und die einzelnen Abstimmungsrechtsgrundsätze unterschiedlich akzentuieren kann. Die Verfassungsgerichte prüfen nur, ob der Gestaltungsspielraum überschritten ist, nicht aber, ob der einfache oder der Verfassungsgesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat. Diesen Anforderungen genügt die Gesetzeslage in Hamburg. Insbesondere sind die Grundsätze der Unmittelbarkeit, der Abstimmungsfreiheit und der Abstimmungsrechtsgleichheit gewahrt.
Zur Abstimmungsfreiheit gehört, dass der Stimmberechtigte ohne inhaltliche Vorgaben nach einem von ihm selbst bestimmten Maßstab entscheiden kann und sich nicht rechtfertigen muss, aus welchen Erwägungen er seine Stimme für oder gegen die Vorlagen abgibt. Die Beachtlichkeit seiner Stimmabgaben steht nicht unter dem Vorbehalt einer Sinnhaftigkeit oder einer Freiheit von inneren Widersprüchen.
Die Abstimmungsrechtsgleichheit beinhaltet, dass die Stimme eines jeden Stimmberechtigten den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Grundsatz der Wahl- (und Abstimmungs-) Gleichheit „radikal egalitär", also im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Diesem strengen Gebot formaler Gleichheit folgen die Regelungen des Volksabstimmungsgesetzes, indem sie die Gültigkeit einer abgegebenen Stimme nicht vom inhaltlichen Vergleich der Vorlagen, zu denen der Stimmberechtigte seine Ja-Stimme abgegeben hat, abhängig machen. Zwar darf der Gesetzgeber bei Vorliegen eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes ausnahmsweise von der streng formalen Gleichbehandlung der Stimmen abweichen, doch hat er davon in Hamburg keinen Gebrauch gemacht, und zwar - wie die Gesetzgebungsgeschichte zeigt - bewusst. Eine Pflicht des Gesetzgebers zu einer nach den Inhalten der Vorlagen differenzierenden Ausgestaltung des Abstimmungsrechts besteht nicht; an die Stelle einer nach dem allgemeinen Gleichheitssatz (Artikel 3 Abs. 1 GG) gegebenenfalls erforderlichen Rechtfertigung einer Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachlagen tritt die Entscheidung der Verfassung für eine formale, strenge Gleichheit.
Weil nach allem die Behandlung paralleler Ja-Stimmen zu zwei inhaltlich widersprüchlichen Vorlagen der einfachen Rechts- und der Verfassungslage entspricht, hat das Hamburgische Verfassungsgericht dahingestellt gelassen, ob die Vorlage der Volksinitiative und die Gegenvorlage der Bürgerschaft wirklich miteinander inhaltlich unvereinbar waren. Ebenso erübrigte sich eine Ermittlung, ob nach Abzug paralleler Ja-Stimmen die Vorlage der Volksinitiative die erforderlichen Mehrheiten erlangt hat, durch Beweiserhebung mittels Neuauszählung der Stimmzettel.
b) Der Antrag ist auch unbegründet, soweit Vertreter der Volksinitiative im Rahmen des Abstimmungsverfahrens unrichtige Behauptungen verbreitet haben sollen.
Aus dem Grundsatz der Abstimmungsfreiheit und dem Demokratieprinzip folgt das Gebot, dass sich die an einem Volksgesetzgebungsverfahren beteiligten staatlichen Stellen lediglich sachlich zu Gegenstand und Verfahren der Abstimmung äußern. Deshalb hat die Bürgerschaft auch dann, wenn sie eine eigene Gegenvorlage zur Abstimmung stellt, Zurückhaltung bei der Werbung für ihr Anliegen zu wahren, denn sie bleibt als staatliches Organ tätig. Die Vertreter der Volksinitiative unterliegen dem Sachlichkeitsgebot hingegen nur, soweit sie im Volksgesetzgebungsverfahren einem staatlichen Organ vergleichbar nach außen auftreten, nämlich bei der Gestaltung der Abstimmungsvorlage und des den Stimmberechtigten mit der Abstimmungs-Benachrichtigungskarte zu übermittelnden Informationsheftes. Das System der Volksgesetzgebung zielt auf eine staatsfreie politische Willensbildung „von unten", also durch die in ihrer Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Abs. 1 GG geschützten Bürger. Deren Wirkungsmöglichkeiten im politischen Meinungskampf würden in unzulässiger Weise beschränkt, wenn sie allein wegen ihrer durch das Volksabstimmungsgesetz vorgeschriebenen Organisierung in der Volksinitiative einem umfassenden Sachlichkeitsgebot wie staatliche Stellen unterfielen.
Die von den Antragstellern beanstandeten Äußerungen zur grundrechtlichen Sicherung des Elternwahlrechtes und die weiteren, über elektronische Medien verbreiteten Äußerungen erfolgten nicht im Rahmen von Vorgängen, in denen die Vertreter der Volksinitiative Befugnisse aufgrund gesetzlicher Regelungen über das Volksentscheidsverfahren wahrgenommen haben. Damit unterlagen sie keinen Beschränkungen durch das Sachlichkeitsgebot.
c) Schließlich ist die Rüge, unter anderem der Landeswahlleiter habe das Abstimmungsverfahren durch eine unrichtige Behauptung, das Quorum aus Arti-kel 50 Abs. 3 S. 13 HV (Zustimmung durch mindestens 1/5 der Wahlberechtigten) gelte auch für die Gegenvorlage der Bürgerschaft, rechtswidrig beeinflusst, unbegründet. Eine solche Information entspricht der Verfassungslage, denn die Bürgerschaft bedient sich durch die Beifügung einer eigenen Gegenvorlage nicht ihrer - nach Meinung der Antragsteller quorumsfeindlichen - aus der Parlamentswahl erwachsenen demokratischen Legitimation, sondern tritt als Akteur in das allgemeine Volkswillensbildungsverfahren neben der Volksinitiative ein.
II. Die Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts ist außer zu der Frage, ob parallele Ja-Stimmen zur Vorlage der Volksinitiative und zur Gegenvorlage der Bürgerschaft gültig sind, einstimmig ergangen.
Nur zur Frage der parallelen Ja-Stimmen ist die Entscheidung mit einer Mehrheit von 5:4 ergangen. Die dissentierenden Mitglieder des Gerichts haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ihre abweichende Meinung in einem Sondervotum niederzulegen (§ 22 Abs. 4 Gesetz über das Hamburgische Verfassungsgericht). Sie halten den aus Artikel 6 Abs. 2 HV, 38 Abs. 1 S. 1 GG abgeleiteten wahl- und abstimmungsrechtlichen Gleichheitssatz für verletzt, weil parallele Ja-Stimmen als gültig behandelt worden seien, obwohl wegen inhaltlicher Unvereinbarkeit von Vorlage und Gegenvorlage das Abstimmungsverhalten unschlüssig gewesen sei. Ob das Ergebnis des Volksentscheides auf den somit ungültigen parallelen Ja-Stimmen beruhe, könne ohne Beweiserhebung nicht beantwortet werden; es hätte durch neue Auszählung die Anzahl der parallelen Ja-Stimmen ermittelt werden müssen.
III. Gegen das Urteil des Hamburgischen Verfassungsgerichts, das höchstes Gericht im Land Hamburg und zugleich - neben Bürgerschaft und Senat - Verfassungsorgan ist, sind keine Rechtsmittel gegeben. Da die Anfechtung des Volksentscheides erfolglos geblieben ist, gilt die in Artikel 50 Abs. 4, Abs. 4a HV näher geregelte Bindung an den Volksentscheid fort.